24. Türchen: Siegfried von Vegesack 

Einsame Weihnacht

Es war vor dem Kriege. Ich studierte in Berlin, die Ferien waren zu kurz und die Reise in meine baltische Heimat zu weit, so konnte ich zum ersten Mal zu Weihnachten nicht nach Hause fahren. Das kam mir aufregend, fast heroisch vor: Ich fühlte mich wie ein Mann, der einem verwegenen Abenteuer entgegengeht. Mit selbstquälerischer Grausamkeit beschloss ich alle Torturen dieses Abenteuers auszukosten, keine Bekannten, die mich freundlich eingeladen hatten, aufzusuchen und ganz alleine den Weihnachtsabend zu verbringen.

Am Nachmittage bummelte ich durch die Straßen, blieb vor den Schaufenstern stehen und zwang mich, den Christbaumschmuck eingehend zu betrachten. Ja, genau solche funkelnden bunten Kugeln hingen zu Hause an unserem Baum, solche Ketten und Silberfäden, die wir „Christkindleins Haar“ nannten. Aber die richtigen Sterne konnte ich nirgends finden. Um meine Qual zu erhöhen, betrat ich sogar die Geschäfte und erkundigte mich nach den zackigen Sternen. Aber die, die man mir vorlegte, waren viel zu blank. Das Fräulein packte verzweifelt ganze Berge von Kästchen aus, versicherte, dass es schönere Sterne gar nicht geben könne, – aber ich ließ mich nicht täuschen: Es waren doch nicht die richtigen.

Dann kam ich an den Verkaufsständen der Weihnachtsbäume vorbei. Als ich den herben Geruch der Tannenbäume spürte, wurde mir ein wenig flau. Schnell wollte ich weitergehen, aber ich zwang mich, stehen zu bleiben und die Bäumchen aufmerksam zu betrachten, als wollte ich eins kaufen. Aber keines gefiel mir, jedes hatte irgendeinen Fehler: Das eine war zu mager, das andere zu rundlich. Die Verkäuferin zog mich von einem Tännchen zum anderen, sie wurden immer billiger. Aber selbst geschenkt hätte ich keines genommen: Weihnachten ohne Christbaum, das war die große Sensation, die ich mit allen Qualen genießen wollte.

Eine Orgel brummte, ich betrat eine kleine Kirche nahe am Wilhelmsplatz. Alle Stühle waren schon besetzt, ich blieb am Eingang stehen. Lange starrte ich auf die beiden Weihnachtsbäume, die neben dem Altar brannten, und kniff mich in die Finger. Als dann aber "O du fröhliche …" angestimmt wurde, fühlte ich plötzlich wie etwas Heißes in mir, die Lichter fingen merkwürdig an zu flimmern, und ich rannte hinaus.

Dann saß ich in einem Café, das trostlos ausgestorben war, obgleich ein Plakat "stimmungsvolle Weihnachtsfeier" ankündigte. Die Leere war bedrückend. Der Kellner versicherte mir, das Fest werde um acht Uhr beginnen. Aber vor dieser stimmungsvollen Feier hatte ich noch größere Angst. Ich zahlte und ging.

Auf dem Bahnhof Friedrichstraße bestieg ich den Zug, um nach Charlottenburg zu fahren, wo ich wohnte. Ein älterer Herr saß im Abteil mir gegenüber und las in einem Buch. Nach einiger Zeit klappte er das Buch zu und legte es beiseite. Wir kamen ins Gespräch.

"Ja, heute ist Weihnachten", meinte er nachdenklich, "der unangenehmste Abend im ganzen Jahr, wenn man allein ist! Sie fahren wohl zu Ihren Eltern, Geschwistern, Freunden oder Bekannten, aber ich fahre, – ja, wie soll ich Ihnen das erklären: Ich fahre einfach so spazieren, in der Ringbahn, immer um die Stadt herum! Das mache ich immer am Heiligen Abend. Denn ich habe niemand, zu dem ich fahren könnte, und in meinen vier Wänden halte ich es nicht aus. In den Lokalen erst recht nicht. Ich sage Ihnen, junger Mann, für den Fall, dass Sie einmal an Weihnachten ganz allein sein sollten: In der Eisenbahn ist es am leichtesten. Man ist allein und doch nicht ganz allein. Menschen steigen ein und aus, immer neue Gesichter. Und die Hauptsache: Man bewegt sich, man kann sich doch einbilden, dass man irgendwohin fährt, dass man irgendwo erwartet wird …"

Wir waren längst über Charlottenburg hinausgefahren, als der alte Mann sich erhob: Jetzt müsse er wieder umsteigen. Das sei das einzig Schwierige: Immer auf verschiedenen Stationen die Züge zu wechseln. Und da ich wirklich zurückfahren musste, stieg ich mit ihm in den nächsten Gegenzug. Noch lange fuhren wir an diesem Weihnachtsabend rund um Berlin spazieren, wechselten bald hier, bald dort die Züge und fanden fast überall leere Abteile. Es war, als liefen die Züge nur für uns. Und der alte Herr erzählte, und ich erzählte, und bald kam es mir vor, als hätten wir uns schon lange gekannt.

"Wissen Sie, junger Mann", fuhr der alte Herr fort und beugte sich ein wenig vor, "was das Schlimmste ist, wenn man zu Weihnachten allein sein muss? Das ist nicht etwa, dass niemand an einen denkt, dass man keine Geschenke bekommt. Nein, viel schlimmer ist, dass man niemandem etwas geben kann, dass man alles für sich behalten muss! Wohltätige Stiftungen, Sammlungen und dergleichen sind nur ein trauriger Ersatz: Man weiß ja nie, wohin die Gelder gehen, ob und wer seine Freude daran hat. Das ist es eben: Man will die Freude des anderen sehen, miterleben oder wenigstens ahnen, – aber wer wirklich allein ist, der ist von dieser Mitfreude ausgeschlossen … Aber auch dafür habe ich mir ein kleines Mittel ausgedacht, ein heimliches Mittel, das mir über diese traurigen Weihnachtsabende hinweghilft, mich etwas tröstet!"

Bei diesen Worten zog der alte Mann einen Briefumschlag aus der Tasche.

"Sehen Sie, junger Mann", fuhr er geheimnisvoll fort, "hier habe ich das Mittel aufgeschrieben, und ich bitte Sie um die Freundlichkeit, es aufmerksam zu lesen, denn ich muss jetzt doch aussteigen, – ich bin nun schon zwei Stunden gefahren, bin müde und muss ins Bett. Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Gesellschaft, vielleicht treffen wir uns am nächsten Heiligen Abend – wenn ich dann noch lebe …"

Der Zug hielt. Der alte Mann drückte mir die Hand, stieg aus, winkte mir noch zu und verschwand rasch im Dunkel.

Während der Zug sich wieder in Bewegung setzte, öffnete ich neugierig den Briefumschlag: Er enthielt nichts als einen Hundertmarkschein, – kein Wort, keine Adresse.

Ein wenig beschämt saß ich da: Ich war auf meine einsame Weihnacht so stolz gewesen, aber ich hatte doch ein Zuhause, ich konnte doch an jemanden denken. Vor dem grausamen Alleinsein dieses alten Mannes, der am Heiligen Abend in der Stadtbahn spazieren fuhr, verblasste meine vorübergehende Einsamkeit zu einem harmlosen Abenteuer.

Text: Siegfried von Vegesack, aus dem Vegesack Archiv Regen 
Fotos: Vegesack Archiv Regen

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Im Buch wird das Leben der Schriftstellerin Clara Nordström nachgezeichnet, die von 1915 bis 1935 mit Siegfried von Vegesack verheiratet war.

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