Friedrich Brandl hat sich seit vielen Jahren als Lyriker einen Namen gemacht. Als „Heimatdichter aus Passion“ versteht sich Brandl beim Schreiben, freilich als einer, der seine Um- und Mitwelt und auch sich selbst kritisch unter die Lupe nimmt.
Mit „Ziegelgassler“ legt der Oberpfälzer Autor seinen ersten Prosaband vor, in dem er Geschichten aus seiner Kindheit in knapper, klarer Sprache erzählt und dabei auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der bayerischen Provinz beispielhaft einfängt.
Bayern nach dem Krieg, Amberg in den Jahren 1946 bis 1959. Friedrich Brandl erzählt Geschichten aus seiner Kindheit, ohne jene Zeit zu idealisieren, aber auch ohne ins Gegenteil zu verfallen. Beengte Wohnverhältnisse, die strenge katholische Moral – „Der Himmelvadda siecht fei alles“. Der Wohlstand ließ noch auf sich warten.
Alles ging von der Ziegelgasse Nr. 23 aus, wo der Autor wohnte. Amberg war die Ziegelgasse. Dann erweiterten sich die Kreise, die Radien wurden größer: der Stadtgraben, die Martinskirche, die Luitpoldschule, das erste Zeltlager. Als die Familie 1959 aus der Ziegelgasse wegzog, war da die Kindheit schon zu Ende? Jedenfalls war man jetzt Teenager, sang „Sugar, sugar baby“ und leistete sich ab und zu eine Coca Cola.
Dubble Bubble
Von meinen Freunden hatte niemand Eltern, die ich heute als reich bezeichnen würde. Meine Eltern gehörten da schon gar nicht dazu.
Und doch gab es Unterschiede.Der Rainer war aus einer Bäckerei.Oder der Dieter vom Trocadero.
Da verkehrten ja viele Amis. Sicher bekam er von denen hin und wieder Kaugummi zugesteckt.
Kaugummi, das war so ein Reizwort für uns Kinder. Hörten wir in der Ziegelgasse die Panzer der Amerikaner, dann gab es für uns kein Halten mehr. Wir sausten durchs Ziegeltor auf die Allee und gafften. Da fuhren die Amerikaner mit ihren Jeeps und Panzern in den Verladebahnhof. Vom Straßenrand aus winkten wir ihnen zu und schrieen immer wieder „Tschewengum plies, Tschewengum plies!“
So hatten es uns jedenfalls die Älteren beigebracht.
Und wirklich, ab und zu winkten die Soldaten nicht bloß zurück, sondern warfen uns auch einen Kaugummi zu. Das war für uns dann das Höchste.
Wir stürzten uns darauf. Oft mussten wir auch teilen, weil die von ihren Panzern zu wenig herabgeworfen hatten.
In unserer Vorstellung hatte jeder von diesen Soldaten seine Taschen voll mit Kaugummi oder anderen Köstlichkeiten.
Süßigkeiten, die waren damals rar.
Meine Tante Leni, die lebte mit ihren zwei Mädchen, der Lisbeth und der Traudl, allein in einer Wohnung am Eisberg. Die bekamen ab und zu ein Carepaket aus Amerika.
Da waren so viele unbekannte, aber köstliche Sachen drinnen. Das Trockenmilchpulver zum Beispiel, das so herrlich süß war und das wir schleckten. Oder die Marmeladentuben.
Mhm...
So etwas wie Taschengeld gab es für mich nicht. Woher hätte meine Mutter mir das auch geben sollen, wo doch ihr Haushaltsgeld so schon hint und vorn nicht gereicht hat.
Bei Naschsachen war ich drauf angewiesen, dass beim Einkaufen der Herr Schubert vom Kolonialwarengeschäft nebenan mir was zusteckte.
Überhaupt war das mit den Süßigkeiten ganz was Besonderes. Das waren keine alltäglichen Dinge. Da musste man immer warten, bis so bestimmte Anlässe kamen.
Solche Anlässe waren die Dult in Amberg zweimal im Jahr, an Pfingsten und im Herbst. Da gab es dann Zuckerwatte und gebrannte Mandeln, rosa Waffeln und bunte Bonbons.
Ein anderes Ereignis war das Bergfest auf dem Mariahilfberg. Ich war da die ganze Woche mit oben. Mein Onkel Schorsch aus Nürnberg hatte nämlich einen Spielwarenhandel und schlug auf Jahrmärkten und Kirchweihfesten seinen Stand auf.
Auf dem Bergfest durften aber keine Spielwaren verkauft werden. Also verkaufte er Rosenkränze und Heiligenbilder, Andenken und Süßigkeiten.
Meine Mutter half mit beim Verkauf. Folglich war ich die ganze Woche auch mit dabei.
Solange ich noch nicht in die Schule ging, den ganzen Tag. Später, in der Schulzeit, am Nachmittag.
Und da fiel schon ab und zu was ab für mich.
Ein paar Kokosmakronen zum Beispiel. Ganz besonders liebte ich den Türkischen Honig. Selbstverständlich lockten auch die Bratwürstln.
Und wenn der Onkel sich eine Maß Bier geholt hatte, dann durfte ich auch mal einen Schluck probieren. Meist erwischte ich da eh nur den Schaum.
Ich glaube nicht, dass uns Kindern etwas fehlte, nur weil wir all diese Dinge nicht jeden Tag bekamen.
Ganz im Gegenteil.
Wir fieberten diesen besonderen Wochen entgegen und freuten uns schon lange vorher darauf, wenn die Dult kam.
Am Verladebahnhof konnten wir ja genau zusehen, wie die einzelnen Karussellbetreiber und Schausteller ihre Wagen mit Traktoren von den Güterwaggons abluden und dann auf den Dultplatz fuhren. Dann wussten wir, dass es bald wieder so weit war.
Oder wenn wir beim Sonntagsspaziergang mit den Eltern auf dem Mariahilfberg bemerkten, dass unter den mächtigen Linden schon die Bierbuden und Bratwürstlstände aufgebaut wurden.
Nikolaus, Geburtstag oder Ostern. Das waren Feste, an denen es Köstlichkeiten gab, die man sonst das ganze Jahr über entbehren musste. Und gerade deshalb waren sie so heiß begehrt.
Dubble Bubble.
Schon der Klang dieser zwei Wörter versetzte uns in Aufregung.
Dubble Bubble.
Dieses kleine, weiße Päckchen Kaugummi mit dem rosa Inhalt.
Und was man erst damit machen konnte.
Wer schaffte die größte Kaugummiblase?
Bei wem knallte es am lautesten, wenn diese zerplatzte?
Und dann dieser Geruch!
Man roch es sofort, wenn ein Kind nicht irgendeinen Kaugummi im Mund hatte, sondern den
Dubble Bubble.
Für mich gehörte er zu den geheimen Wünschen, die ich mir gerne erfüllt hätte. Wenigstens ab und zu.
Meine Mutter kaufte mir keinen. Beim Einkaufen nebenan bekam ich auch keinen geschenkt. Selber hatte ich kein Geld. Ich war so richtig neidisch, wenn einer meiner Freunde einen Dubble Bubble hatte. Ich wollte unbedingt auch einmal einen probieren.
Der Zufall half. Eines Tage lag vor mir auf der Straße, ja, ich traute meinen Augen nicht, ein Dubble Bubble.
Er war nicht mehr verpackt.
Hatte ihn jemand verloren, bevor er ihn in den Mund geschoben hatte? Das Papier lag auch daneben. Ganz frisch sah er nicht mehr aus, der Kaugummi. Ein bisschen plattgedrückt. Hatte ihn womöglich schon jemand gekaut? Oder war nur jemand darauf getreten?
Ich war ratlos.
Ich schwankte zwischen Begierde und Ekel. Die Begierde siegte.
Ich hob ihn auf, wickelte ihn sorgfältig in das Papier und steckte ihn in meine Hosentasche. Daheim schlich ich sofort in das Waschhaus bei uns im Hof. Dort packte ich meinen Fund aus und begutachtete ihn von allen Seiten.
Dann wusch ich einen kleinen Blechtopf aus, füllte ihn halb voll mit Wasser, legte meinen Dubble Bubble hinein und versteckte den Topf hinterm Waschkessel.
Zwei Tage wollte ich ihn im Wasser liegen lassen, nur für den Fall, dass er vielleicht doch schon einen Vorbesitzer hatte. Zwei Tage mussten genügen, damit meine Zweifel beseitigt wären.
Dann, nach zwei Tagen holte ich ihn aus dem Versteck und schob ihn mir in den Mund. Erst zaghaft, dann aber doch voller Freude kaute ich darauf herum.
Zum ersten Mal konnte ich eine Kaugummiblase probieren, was mir jedoch nicht gleich gelang. Auch die nächsten Versuche waren eher enttäuschend.
Nach einigen Minuten Kauen legte ich ihn zurück ins Wasser. Ich musste ihn wieder verstecken. Meiner Mutter wäre es sofort aufgefallen, wenn ich da kauend in die Wohnung gekommen wäre.
In den nächsten Tagen holte ich ihn immer wieder hervor. Auf der Straße kaute ich meinen Dubble Bubble.
Richtig stolz war ich, als die erste Kaugummiblase mit lautem Knall zerplatzte.
Zugegeben, Geschmack hatte er kaum mehr, der Dubble Bubble. Dazu war er zu lange im Wasser gelegen.
Aber ich war glücklich.
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