Becher, Wir werden also zu Euch nach München fahren

Die Öffnung der Grenze im Herbst 1989 war mehr als nur ein einziges Ereignis. Für einige DDR-Bürger begann sie am 30. September mit Hans-Dietrich Genschers berühmten Worten in der Prager Botschaft der Bundesrepublik. Für viele Tschechen und Sudetendeutsche war die Heiligsprechung der Agnes von Böhmen eine Woche nach dem Fall der Berliner Mauer entscheidend, gab es doch eine Prophezeiung, dass sich mit der Heiligsprechung die Zustände in Böhmen ändern würden. Die Prager Studentendemonstration am 17. November leitete diese Änderung kurz darauf ein, die Durch­trennung des Stacheldrahts durch die Außenminister Dienstbier und Genscher bei Waidhaus rundete sie einen Tag vor Weihnachten symbolisch ab.
Als Václav Havel, der neugewählte Staatspräsident, Anfang Januar 1990 seine Antrittsbesuche in Berlin und München absolvierte, war die Aufregung groß. Ich saß an diesem Tag mit dem Schriftsteller Ota Filip zusammen, der in seiner Schwabinger Wohnung vor lauter Glückseligkeit kaum wusste, wie er seinen Gefühlen Ausdruck verleihen sollte. Sein, nein, unser Staatspräsident würde nach München kommen. Unvorstellbar. Doch die Fernsehbilder ließen keinen Zweifel zu. Kohl und Genscher freuten sich wie kleine Buben auf den Besuch des ehemaligen Dissidenten, und dieser kletterte so unbefangen und munter aus dem Flugzeug, dass jede staatsmännische Förmlichkeit einer überwundenen Ära anzugehören schien.
Wenige Tage später war ich mit Filip und seiner Tochter Hana nach Prag unterwegs. In Waidhaus ließen uns die Grenzer lange 30 Minuten in der Kälte warten, in der unsere Gedanken klirrten und der Ärger die freudige Erwartung dämpfte. Schließlich waren alle Visums- und Zollfragen geklärt. Wir fuhren in ein winterliches Böhmen mit verschneiten Straßen und gewundenen Alleen hinein (die Autobahn war noch lange nicht gebaut). Prag erschien uns wie eine Eisblume am Fenster. Am Wenzelsplatz Kerzen, Sprüche und Mahnungen. Überall Bilder des neuen Präsidenten: „Havel na hrad, Havel na hrade“: „Havel auf die Burg – Havel auf der Burg“.
Wir bereiteten eine gemeinsame Reise tschechischer und deutscher Schriftsteller vor. Filip aber wusste nicht mehr, ob er als tschechischer Autor (im Exil) oder als deutscher Autor (mit bundesdeutschem Pass) teilnehmen sollte. So offen waren plötzlich alle Möglichkeiten. Im Café Slavia diskutierten wir über die Reise, an den Fensterscheiben Fotos von Masaryk und Beneš, dazwischen die tschechoslowakischen Nationalfarben. Und Filip saß mit dem Pantomimen Dušan Parízek und seiner Frau Dobra so selbstverständlich im Café, als ob er nie im Exil gewesen wäre.
Am Abend besuchten wir Ludvík Vaculík und Lenka Procházková in ihrer Wohnung am Moldaukai. Im Wohnzimmer stand eine zerzauste Fichte, schmucklos bis auf einen großen Silberpapierstern, am Boden ein Kreis abgefallener Nadeln. Wir wollten sie noch im Januar zu Lesungen nach München einladen. Lenka, die ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „diversity“ trug, erzählte schnell und viel von den Tagen des Umsturzes. Vaculík saß lange schweigend in seinem Stuhl und hörte uns zu. Schließlich sagte er: „Ihr wisst ja, heute vor 100 Jahren wurde Karel Capek geboren. Und wir werden also zu Euch nach München fahren.“
Was niemand für möglich hielt, wurde bereits drei Wochen später Wirklichkeit. Am 26. Januar 1990 trafen Vaculík und Procházková aus Prag und Jan Trefulka aus Brünn am Münchner Hauptbahnhof ein, wo wir sie standesgemäß mit einem Gläschen Becherovká empfingen. So begann eine neue Phase der Beziehungen, die schon bald zu einem festen Bestandteil der bayerisch-böhmischen Zusammenarbeit werden sollte.               PETER BECHER

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