Brechts Antwort auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch lautete: „Sie werden lachen: die Bibel!“ Seine Wahl liegt in der Sprachgewalt und Bildkraft der Luther-Übersetzung begründet. Auch und gerade wenn es um Spirituelles geht, darf gelacht oder gelächelt werden, so der Autor Gerd Holzheimer.
Nichts scheint heute gewiss, Glauben ist Glückssache. Vielleicht sollten wir uns einfach nicht so wichtig nehmen. Lachen zu können tut gut gegen die Angst: vor Gott, vor dem Nichts, vor uns selbst. „Und Sie werden lachen“ ist ein nicht-theologisches, in 169 Begriffen gegliedertes, essayistisches Lexikon Gerd Holzheimers, der seine enzyklopädische Trilogie (über Österreich, über Bayern und über die Erotik) um eine Dimension erweitert - als Versuch, fröhlich glauben zu können.
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Gerd Holzheimer, geboren 1950 in München, studierte Germanistik, Geschichte, Politische Wissenschaften und Philosophie. Er promovierte mit seinen Studien zu einer „Poetik des Gehens in der Literatur“ („Wanderer Mensch“) und arbeitet als Lehrer, Literaturwissenschaftler und Autor für Funk, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften.
Buchveröffentlichungen u.a. „Krachen lassen. Archaische Rituale in Bayern“, „Leiden schafft Passionen“, „Niederwahna“, „Denk dir nix. Ein Bayern-Lexikon“, „Wenn alle Strick reißen, häng ich mich auf. Ein Österreich-Lexikon“, „Wider den genitalen Ernst. Sex von den 68ern bis zur Love-Parade“.
Vorwort
Brechts Antwort auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch lautete: „Sie werden lachen: die Bibel!“ Seine Wahl liegt in der Sprachgewalt und Bildkraft der Luther-Übersetzung begründet. Gretchen in Goethes „Faust“ will mehr, sie will von ihrem Heinrich wissen, wie er es mit der Religion hält. Seine Ausführungen sind eher Ausflüchte und für Gretchen alles andere als erhellend, doch sind Antworten auf Gretchenfragen auch schwer. Dieses spirituelle Lexikon erhebt keinen Wahrheitsanspruch, im Gegenteil. Es ist nichts als die Summe dessen, was ich zu dem Zeitpunkt, da ich es geschrieben habe, weiß und was ich glaube. Nichts scheint heute gewiss, Glauben ist Glückssache. Vielleicht sollten wir uns einfach nicht so wichtig nehmen. Lachen zu können tut gut gegen die Angst: vor Gott, vor dem Nichts, vor uns selbst.
Meinen Glauben habe ich von meiner Großmutter, die jeden Sonntag mit mir in die Kirche ging und auf dem Heimweg über den Schmarrn schimpfte, den der Pfarrer in der Predigt verzapft hatte. Heimlich, weil mein atheistischer Vater das nicht wissen durfte, wurde ich Ministrant, legte sogar ein lebenslanges Gelübde auf die Heilige Mutter Gottes ab, dessen Inhalt ich leider vergessen habe. Ich entsinne mich nur noch der Wiener Würschtl, die uns der Pfarrer nach dem Gelübde im Hirschgarten spendiert hat. Später spielte ich in Jazzmessen, die seinerzeit als ungeheuer avantgardistisch galten, Banjo, was den Vorteil hatte, dass wir erstens schulfrei hatten, zweitens dadurch, dass wir Engagements an Mädchengymnasien bevorzugten, natürliche Vorzüge genossen, drittens vom Pfarrer zehn Mark bekamen. Im Studium trat an die Stelle von Gottvater Karl Marx, der nicht viel anders ausschaute, doch hielt ich mich auch von diesem Dogma frei. Sehr nahe kam mir gleichzeitig und blieb mir seither der Zen-Buddhismus, durch einen Freund vermittelt. Zen, so wurde mir klar, ist nichts anderes als ewige Wanderung, auf der nicht nach dem Woher und nicht nach dem Wohin gefragt wird, sondern nur eine einzige Wahrheit zählt: „Tausend Meilen beginnen vor deinem Fuß!“ Lange Zeit ging ich auf diesem Weg, bis mir eine Begegnung mit einem Benediktiner-Pater die Augen öffnete, dass sich auch im Katholischen eine Religion mit heiterer, offener Spiritualität verbirgt. Dann muss ich nicht so weit gehen, bis in den Osten, dachte ich, obgleich ich den Weg nicht bereue, gar nicht. Ich empfinde ihn auch nicht als Umweg. Meine eindrücklichsten Erfahrungen verdanke ich wiederkehrenden Aufenthalten im Kloster Andechs, dessen Gast ich immer wieder sein kann. Ich habe viel im Kloster erfahren, es gehört zu den großen Glücksfällen in meinem Leben – vor allem in der Begegnung mit Menschen, deren besonderer spiritueller Weg mir auf meinem eigenen weiterhalf. Ich habe gemerkt, dass es „die Kirche“ nicht gibt, aber in der Kirche sehr viele eindrucksvolle Persönlichkeiten. Abgesehen davon, dass es der Erleuchtung egal ist, wo du sie bekommst. Als mir auf einen Schlag alle Haare ausfielen und ich eine Kappe aus Tschadikistan trug, fragte mich in der U-Bahn ein Herr aus dem Arabischen, ob ich zum Islam übergetreten und jetzt Fundamentalist wäre. Ich lüftete mein Hütchen und sagte: „Nein, ich hab bloß eine Platten“ (für Nordsprech: Glatze). Ich war auf dem Weg in die Bayerische Staatsbibliothek zur Ausstellung „Die Worte des Buddha“. Das erste Bild, das mir auffiel, trug den Titel: „Der angehende Buddha schneidet sich das Haar ab“, als äußeres Zeichen, Asket zu werden. So weit bin ich noch nicht, so weit will ich auch gar nicht kommen. Aber ich habe zum Beispiel gelernt, dass Widersprüche Widersprüche sind und man da oft nichts machen kann, aber deswegen braucht man noch lange nicht zu verzweifeln. Man kann zum Beispiel ein Lexikon schreiben, mein viertes inzwischen, nach einem über österreichisches und einem über bayerisches Bewusstsein, einem über die Erotik, weil ich kein anderes Land mehr kannte, nun konsequenterweise ein spirituelles. Hier ist es – ein nicht-theologisches Lexikon, dessen Autor eine Theologie des Lachens und der Heiterkeit am Herzen liegt.
P.S. Der Verfasser ist katholisch und meint, wenn er „Kirche“ schreibt, immer die katholische, es sei denn, es ist anders vermerkt.
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Abendmahl
Eine der großen, eine der ganz großen Szenen des Christentums ist das Abendmahl. Man setzt sich zusammen an einen Tisch, zum Essen, zum Trinken und zum Miteinandersprechen. Es gibt kaum ein Bild, das die Menschen friedlicher und auch heiterer zeigt, als wenn sie eine Tischgemeinschaft bilden. Die Trauer über das letzte Abendmahl, mit dem Jesus Abschied von seinen Jüngern nimmt, wird dadurch aufgehoben, dass das Abendmahl in jedem Gottesdienst von Neuem zelebriert wird. Auch an jedem anderen Tisch sitzt der Herr. Als einmal in fröhlicher Runde ein Teilnehmer nachzählt, wieviele am Tisch sitzen, und etwas bedauernd auf die Zahl elf kommt: „Schade, sonst wäre es wie bei den Aposteln“, entgegnet ihm der Seelsorger: „Wir sind vollständig, der Herr weilt immer unter uns!“
Auf Leonardos letztem Abendmahl ist rechts neben Jesus kein Mann abgebildet, sondern eine Frau – seine Frau natürlich, wie der Schriftsteller Dan Brown in seinem Roman „Sakrileg“ schneidig offenlegt. Tatsächlich trägt die Figur, neben der man zum Fenster in eine weite Landschaft hinausschauen kann, sehr weibliche Züge. Man munkelt von Maria Magdalena. Warum auch nicht?
Wie auch immer, mein persönlicher Lieblingsjünger bleibt Johannes: Wenn es eng wird, schläft er ein. Zum Beispiel, als Jesus über ihn hinweg Judas den Bissen reicht. Den Seinen gibt es der Herr im Schlaf, heißt es. Was für ein schöner Trost für alle, die sich auch oft ein bissl müd fühlen.
Ablass
Der Ablass ist eine von Luther in nichtkatholischen Ländern abgeschaffte Möglichkeit, relativ günstig seine Sünden loszuwerden und dabei gleichzeitig mäzenatisch etwa für den Bau der Kuppel auf der Peterskirche tätig zu werden. Die Kuppel kann sich wirklich sehen lassen, allerdings nahmen über dieser Geschichte die Lutherischen ihren Anfang; „Ablasshandel“ nannte Luther diesen Vorgang, Sünden mehr oder weniger gegen Dachziegel einzutauschen. Du lässt die Sau raus – sei es nur aus Versehen oder auch nicht, etwa weil die Sau in dir so übermächtig geworden ist – und zahlst die paar Dachziegel im Gegenwert zu dem Schaden, den deine Sau angerichtet hat, dann geht es sich wieder aus, spirituell und überhaupt; eine interessante Option, auf jeden Fall.
Advent
Selbst wer glaubt, hat es nicht unbedingt einfacher, sich die Welt zu erklären, als wer nicht glaubt. Denn es geht beim Glauben immer noch darum, woran man dann im Zweifelsfall glaubt. Zum Beispiel geht denen der Weihnachtskult zu weit, die am Osterfest als wichtigstem Fest der Christenheit festhalten und die Tendenz vom Kreuz zur Krippe nicht gutheißen wollen, also denen Ostern lieber ist als Weihnachten. Wobei die Freunde der Krippe darüber in eine Zweifronten-Auseinandersetzung geraten, weil sie ihrerseits das Christkind gegen den immer übermächtiger werdenden Weihnachtsmann zu verteidigen haben.
Natürlich kommt der Weihnachtsmann aus Amerika und ist, wie alles, was diesbezüglich von dort kommt, eine Kaufhauserfindung. Kommerziell natürlich ungeheuer erfolgreich, klettert er seither auch die Fassaden der Alten Welt hinauf, um vor allem die Kinder mit Geschenken zu überschütten – zur weiteren Ankurbelung der Marktwirtschaft. Die Kletterei wird außerordentlich vielfältig und originell gestaltet: Bei den einen benutzt er eine Strickleiter, bei den anderen hievt er sich per Klimmzug über die Balkonbrüstung, während er bei den nächsten wiederum eine Strickleiter – aber das hatten wir ja schon. Das liturgische Jahr, welches am ersten Advent beginnt, und seine Höhepunkte Weihnachten, Ostern und Pfingsten feiert, wird überlagert von einem kommerziellen Jahr, das zwischen Sommer- und Winterschlussverkauf etwa noch Valentinstag, Halloween oder eben den Weihnachtsmann gewinnmaximierend ins Rennen schickt.
Ursprünglich oblag dem Nikolaus die Schenkfunktion, doch wurde diese von Luther auf Weihnachten verschoben. Nicht einmal ansatzweise hat dieser amerikanische Weihnachtsmann etwas mit Nikolaus zu tun, weder mit dem heiligen noch mit dem verkleideten, der schließlich auch in ganzheitlicher Tateinheit mit dem strafenden Krampus oder Knecht Rupprecht in die bürgerlichen Stuben polterte – zum Schrecken der Kinder. Nur ganz hart gesottene Burschen wie der junge Gerhard Polt wagten den Aufstand. Als Anführer eines „Kinderheeres“ an der Ecke Türken-/Schellingstraße werden die studentischen „Schnelldienstheiligen“ mit einem „Gewitter von Wurfgeschossen“ empfangen. „Den mach ma fertig“, schreien die jungen Revoluzzer, und tatsächlich geht ein Nikolaus, der sich in den nahen Gemüseladen retten will, zu Boden, vom Gemüsehändler auch noch mit Unflätigkeiten überschüttet, in denen dem Wort „Drecksau“ eindeutig der Vorzug gegeben wird. Im späteren Leben ist Polt natürlich selber Nikolaus geworden, was eine eindrucksvolle Bildfolge dokumentierend unterstreicht. Von links nach recht sieht man den kleinen Gerhard als Kommunionkind, es folgt ein Bildnis von Robespierre, abgeschlossen wird die Sequenz durch ein Photo von Gerhard Polt als „Hl. St. Nikolaus“. So muss es sein. Wer als junger Mensch kein Revolutionär ist, hat kein Gefühl, wer als älterer nicht konservativ wird, hat keinen Verstand.
Der Advent aber hat für viele das verloren, was er seinem Wortsinne nach sollte oder könnte: auf eine „Ankunft“ warten. Ein Kind soll kommen, heißt es, ein Kind. Es sagt „abba“ zum Vater, also praktisch „Pabba“. Es sagt „lieber Vater“ zu Gottvater. Gott ist also nicht einer, der zum Fürchten da ist. Es kommt mit diesem Kind etwas ganz Anderes auf die Welt: ein großes neues Beginnen. Denn dieses Kind ist ein göttliches Kind, ein rettendes Kind, ein heilendes Kind. Dieses Kind wird, so hofft man, den Frieden bringen. Man wird sich noch wundern, gewaltig wird man sich über dieses Kind wundern, denn es wird Wunder tun. „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“, so wird man von diesem Kind sprechen. Und der Friede, der von diesem Kind ausgeht, könnte ein Friede der Seele sein. An so etwas könnte man im Advent denken.
Aktualität
Natürlich ist Religion „immer ein Thema“, wie man in gewissen Kreisen sagt. Dabei ist Spiritualität etwas vollkommen Selbstverständliches, so wie es der aus Rumänien stammende Religionswissenschaftler Mircea Eliade, der eine Zeitlang Busfahrer in Chicago war und das „Heilige“ gegen das „Profane“ setzte, als dem Menschen wesensgemäß ansieht: „Als ein menschliches Wesen zu leben, war an sich in den uralten Kulturen schon ein religiöser Akt, denn Nahrung, Sexualität und Arbeit hatten einen sakramentalen Wert. Mit anderen Worten, ein Mensch sein – oder besser, werden –, heißt religiös sein.“
Alkohol
Vom Sündenpotential weniger schlimm eingeschätzt als Sex. Allerdings wurden noch, etwa seitens der Münchner Katholischen Kirchenzeitung, bis in die fünfziger Jahre hinein zumindest theoretisch Normen formuliert, wo Grenzen anzusetzen seien: „Ist ein Priester so betrunken, dass er die Psalmen nur noch lallt, soll er zwölf Tage von Wasser und Brot leben. Ist ein Mönch so voll, daß er speit, soll er dreißig Tage Buße tun. Ist ein Bischof so betrunken, daß er die Hostie kotzt, muß er neunzig Tage büßen.“ Auf einem Votivzettel in einer Wallfahrtskapelle wurde diese Bitte ausgesprochen: „Bitte Heilige Muttergottes, Lass unser Leben in ortnung bringen und das wir keine Alkoholiker werden!“
All
„Nicht die Bibel, sondern der rechte Blick ins All tröstet und kräftet“, schreibt der Pastorensohn, Schriftsteller und Goethezeitgenosse Jean Paul an den Kollegen Voß. Allerdings gibt der Blick ins All auch heftig zu denken. Benommen, nicht nur wie vor den Kopf geschlagen, sondern in der Seele erschüttert, schleichen wir hinweg vom Teleskop, durch das wir in das unendliche Universum geschaut haben. Wie winzig wir uns auf einmal vorkommen, wie lächerlich, wie unbedeutend – unzulänglich auch, das Unendliche uns vorstellen zu können, vollkommen ausgeschlossen. Es ist zum Wahnsinnigwerden, man darf gar nicht länger drüber nachdenken. Aber unverfroren machen wir uns Bilder, glauben ausgerechnet, auf unserem Staubkörnchen Erde hätte die Schöpfung ihren Ausgang genommen, und wir, die selbsternannte Krone der Schöpfung, wir machen uns ein Bild davon. Und behaupten: so wars und nicht anders. Und entwickeln eine Konstruktion, die wir Gott nennen – und hinauf mit ihm ans Firmament, auf dass wir uns leichter tun mit unserem Sinn, dem Heil, auf das wir hoffen; erlöst wären wir gern. Je enger das Bild wird, desto absurder wird es unter solchen Vorzeichen.
Da haben es die Buddhisten einfacher. Der Buddhist sagt: Es gibt kein Werden, es gibt kein Vergehen. So what? Die haben leicht lachen, die Buddhisten.
Als Nicht-Buddhist oder Nicht-ganz-wirklicher-Buddhist müsste man, wenn also überhaupt schon, jeweils von ganz von neuem zu denken beginnen und versuchen, sich denkend, erspürend, meditierend langsam auszudehnen, so wie das Universum sich ausgedehnt hat und noch immer ausdehnt. Sich auszudehnen gehört nach Spinoza zu den Attributen Gottes. Wenn sich von ihm vorstellen ließe, dass er sich ebenso wie das Universum noch entwickle, Gott also nichts Fertiges, Vollendetes wäre, das würde es auch uns leichter machen. Wir stecken in dem gleichen Prozess wie Gott. Nicht die Instanz ist übermächtig, alles ist übermächtig. Das Universum erschiene als Manifestation Gottes. Sein ganzes Wollen drückte sich darin aus, sein Wollen wäre identisch mit dem Universum.
„Wenn wir die Galaxien der Sternenwelt zählen oder die Existenz von Elementarteilchen beweisen, so sind das wahrscheinlich keine Gottesbeweise“, sagt Charles Rubia, Generaldirektor des Europäischen Forschungszentrums für Atomwissenschaft, Nobelpreisträger für Physik. Aber als Forscher ist er „tief beeindruckt durch die Ordnung und die Schönheit“, die er im Kosmos ebenso vorfindet wie im Inneren der materiellen Dinge. „Die Vorstellung, dass das alles das Ergebnis eines Zufalls oder bloß statistischer Vielfalt sei, das ist für mich vollkommen unannehmbar“. Auch für ihn muss eine Intelligenz auf einer höheren Ebene vorgegeben sein, „jenseits der Existenz des Universums selbst.“ In seinem letzten Aufsatz, der den Titel „Science and Religion“ trägt, stellt Albert Einstein seine persönliche Auffassung von Religion als „demütige Bewunderung einer unbegrenzten geistigen Macht“ dar, „die sich selbst in den kleinsten Dingen zeigt, die wir mit unserem zerbrechlichen und schwachen Verstand erfassen können.“ Dass sich die gesamte Entwicklung von Makro- und Mikrokosmos durch zufällige mechanische Prozesse vollzogen hat, wird mit dem schönen Vergleich konterkariert, dass mit der gleichen Wahrscheinlichkeit ein Tornado über eine Müllhalde hinweggegangen sein könnte und dabei durch Zufall ein Flugzeug zusammengebaut hätte.
Kann man, darf man noch einen Schritt weitergehen und überlegen, ob Gott auch in uns seine Entfaltung findet und sich entwickelt, indem wir uns entfalten und entwickeln? Dadurch wird der Anspruch an uns nicht geringer, im Gegenteil, er steigt weit über das katechismusübliche Maß hinaus. An Gott in uns müssen wir uns orientieren – als sündhaft erweist sich auf einmal jedes Stehenbleiben, alle Starrheit, vor allem die Weigerung, nach vorne zu schauen und zu gehen.
So könnten, so sollten wir denken, schreiben, glauben, langsam erst entfaltend, was wir denken, schreiben und glauben. Solches könnte uns der Blick ins All zu denken geben. Ob er tröstet und kräftet, steht auf einem anderen Blatt (siehe Gerd Holzheimer: Spirituelles Lexikon von Alpha bis Zett). Wenn nicht, dann hilft vielleicht noch Becketts Lebensprogramm: „Alles seit je. Nie was anderes. Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ R.H. Blyth, ein nichtjapanischer Japandenker, hält das Universum für Gottes Furz, weshalb sich viele die Nase zuhielten, anstatt ihn „lieber eines tiefen Atemzugs“ zu würdigen.
Alltag
Wenn die Wies-Kirche nicht von den Gebrüdern Zimmermann gebaut worden wäre, dann wäre sie wahrscheinlich von Mozart, aus seiner Musik entstanden. Freundlicherweise führt sie uns hinaus, aus dem Alltag, weist auf ein Wesen hin, das wir möglicherweise der Einfachheit halber Gott nennen, der uns aber freundlicherweise zurückführt in einen Alltag, damit er uns nicht mehr banal, belanglos und aller Inspiration entgegenwirkend vorkommt, überhaupt nicht, im Gegenteil. Spiritualität und Alltag müssen nicht janusköpfig in verschiedene Richtungen schauen. Eine Spiritualität, die wirklich gelebt sein will, muss sich auch im Alltag wiederfinden können. „Ein Taoist ist der Joker im Spiel, der Poet am Herd“, schreibt Lawrence Durell in „Das Lächeln des Tao“. Er glaubt, dass „die Erde ein Paradies sei, und man von daher gezwungen sei, dies so vollständig wie möglich wahrzunehmen und zu verwirklichen, bevor man gezwungen wird, sie zu verlassen.“
„Der Alltag als Übung“ reicht dazu vollkommen aus, um mit den Worten von Karlfried Graf Dürckheim zu sprechen: „Ein Brief soll in den Kasten, hundert Schritte entfernt. Hat man nur den Einwurf im Auge, dann sind die hundert Schritte vertan. Ist man als Mensch auf dem ,Weg‘, vom Sinn des Menschseins erfüllt, dann kann man sich auf dem kürzesten Gang, geht man ihn nur in der rechten Haltung und Einstellung, in Ordnung bringen und vom Wesen her erneuern.“ Im Gehen sinnt der Schreibende noch einmal über das Geschriebene nach; im Gegensatz zum schnellen Fax oder Mail wird im Gehen jedem geschriebenen Text noch ein Schlusskapitel hinzugefügt: Beginn des nächsten Briefes.
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