Eine Warschauer Begegnung

Als Kind polnischer Eltern wuchs Olivia Kortas in Niederbayern auf. Vor Kurzem ist die junge freiberufliche Journalistin nach Warschau gezogen. Um von dort zu berichten. Um das Heimatland ihrer Eltern zu verstehen. Um herauszufinden, wie polnisch sie selbst ist.

Ein Beitrag aus dem magazin lichtung 2019/1

 

Die blaue Stunde legt sich über die Ząbkowska und in ihren Häusern erwacht der Stolz. Tagsüber tragen ihre Fassaden Narben, Bretter schützen kaputte Fenster wie Augenklappen. Doch jetzt verdeckt die Dunkelheit die Makel. Mittzwanziger mit Mützen und Tattoos drehen sich staunend nach Warschaus ältesten Wohnhäusern um. Eine grauhaarige Frau schlurft vorbei, in ihrer Plastiktasche gluckert die halbvolle Flasche Wodka. Ihr Rücken ist so weit gebückt, als wolle sie den Boden küssen. In meiner Straße begegnet sich Polen.

In meiner Straße begegnen sich die Alten, die Migranten, die Künstler, die Gläubigen, die Trinkenden. Meine Straße zeigt, was die Spaltung der Gesellschaft für den polnischen Alltag heißt. Denn es herrschen politische Zeiten im Heimatland meiner Eltern. In den Läden liegen Bücher, auf deren Covers das Land in zwei Teile zerfällt. Die Ergebnisse der Regionalwahlen im Oktober geben ihnen Recht: Der eine Teil der Polen unterstützte die nationalkonservative Regierungspartei PiS, der andere Teil wählte dagegen: entweder für die liberale Oppositionspartei PO oder für die Rechtspopulisten.
Die Debatten sind heiß, mit ihrem Spott übertreffen sich regierungsnahe und -kritische Medien gegenseitig. Im Sommer startete Polen seinen Wahlkampfmodus, der zwei Jahre lang anhalten wird. Vergangenen Oktober fanden die Regionalwahlen statt, im Mai folgen die Europawahlen, im Herbst wählt Polen ein neues Parlament und im Frühjahr 2020 seinen Präsidenten. Jaroslaw Kaczynskis Partei PiS erhielt 2015 auch deshalb die Mehrheit im Parlament, weil sie den Polen versprochen hat, wieder „aus den Knien aufzustehen“ und dabei jeden abzuschütteln, der die Souveränität des Landes schwächt. Ihr Kurs richtet sich gegen die EU und fordert Patriotismus. Das polarisiert die Polen.

Seit Oktober lebe ich in der Ząbkowska im Stadtteil Praga, sie ist eine der ältesten Straßen Warschaus. Während auf der anderen Seite der Weichsel Frauen in hohen Absätzen durch die Straßen stolzieren und Männer Mäntel und schicke Lederschuhe tragen, kleiden sich die Leute in Praga entspannter: weiße Stiefel, Militärhosen, Jeans, lange Kleider, Sportjacken, Leopardenmuster. Im Zweiten Weltkrieg zerbombten die Deutschen 85 Prozent der polnischen Hauptstadt. Allein Praga blieb einigermaßen verschont. Ein Großteil seiner Gebäude aus dem 19. Jahrhundert wurde seither nicht renoviert, die Mieten sind billig. Junge und Kreative ziehen in das Viertel und mischen die konservative Nachbarschaft auf.
Es ist Freitagnachmittag. Ich habe vier Stunden Zeit, bevor ich mich mit einem Kollegen treffe. Auf der Suche nach einem Café spaziere ich die Ząbkowska entlang, vorbei an dem hippen Barbier, vorbei an dem Laden mit teuren Designersesseln, vorbei an der Neonaufschrift „Alkohol 24“, deren Schein im Dunklen Durstige anzieht wie Motten. Da fällt mir ein zweites Schild auf: „Bar, Cafe & Art”. Der Pfeil deutet in Richtung Innenhof. Im Torbogen schlägt mir Uringeruch entgegen. Durch eine Tür fällt Licht in den Hof. Das Lokal ist menschenleer, davor sitzen eine Frau und ein Mann. Ob ich mich nicht dazusetzen wolle, fragen sie.
Ich erfahre: Die Frau, Justyna, besitzt die Bar. Der Mann, Piotr, ist Musiker. Sie, Anfang Vierzig, ist stark geschminkt, ihre Lippen sind aufgespritzt und doch ist sie schön, in fließendes Orange und Schwarz gehüllt. Er, Mitte Fünfzig, trägt ein grünes Sakko und die grauen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Justyna wählt die liberale Bürgerplattform. Piotr wählt die nationalkonservative Regierungspartei PiS. Und es dauert nicht lange, dann geht es wieder los. Dann beginnt eines dieser unzähligen Duelle, das zum selben Zeitpunkt viele andere Polen in Restaurants, Bars, Sportvereinen und Familien führen.
„Was hältst Du vom Kulturpalast?”, fragt Piotr plötzlich und blickt Justyna an. Sie wirkt überrascht, verzieht spöttisch die Lippen, ihr Blick ruht kalt auf Piotr. Ich spüre ihre Spannung und Vorfreude. Auch Piotr spürt das. Er schlüpft in seine Rolle. „Wir sollten das Ding abreißen”, sagt er, „eine kommunistische Schande, mitten in der polnischen Hauptstadt!“ Justyna antwortet ruhig: „Ach, wozu denn? Der Palast gehört zu uns, wir haben ihn zu etwas Polnischem gemacht.” Eine hitzige Debatte beginnt, voller scharfer Witze und Wortspiele, die Gesten schweifen aus, es ist ein Schauspiel. Schon jetzt ist klar: Einen Gewinner wird es nicht geben. Denn das ist die Regel.
Seit ich in Polen lebe, gerate ich fast täglich in ein solches Duell. Es reicht, wenn ich sage, dass ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin. Die Themen stehen fest: Abtreibung, Flüchtlinge, Wirtschaftsmigration, Angela Merkel, Reparationen, Patriotismus, die extreme Rechte, die Europäische Union. Mit meinem Wohnort hat sich auch der politische Konsens um mich herum geändert. Meine wertliberalen Meinungen entsprechen nicht länger dem öffentlichen Mainstream. Ein konservativer Bekannter sagte mir neulich, sein Leben in Warschau sei viel entspannter als in Berlin, endlich sei er nicht mehr der einzige Gegenpol auf jeder Party.

Die Polen suchen die Debatte, sie genießen sie. So wie Justyna und Piotr. Die beiden sind seit Jahren gute Freunde. Dennoch streiten sie ausgerechnet über den Kulturpalast, das Wahrzeichen ihrer Stadt. Sie tun das mit großer Leidenschaft: Man könnte meinen, Wladimir Putin habe das Gebäude vergangene Nacht in die Stadt gepflanzt. Vor mehr als 60 Jahren setzten die Sowjets den Wolkenkratzer in das Zentrum Warschaus. Damals trug er Josef Stalins Namen und galt als Symbol der Unterdrückung. Heute befinden sich in seinen unteren Etagen ein Theater, ein Kino und drei schicke Bars, in denen abends oft Musiker spielen. Er muss als Symbol der Spaltung zwischen der Opposition und der Regierung herhalten. Letztere gewinnt Stimmen, indem sie den Kommunismus als Buhmann benutzt.
Plötzlich, am Höhepunkt der Debatte, schlägt Piotr vor: „Ach, Justyna, lassen wir das. Trinken wir lieber!“ Er schenkt Wodka ein. Sie lächelt nachsichtig. Einigen konnten sich die beiden nicht, ihre Positionen klaffen weiter auseinander. Doch zumindest für heute vergessen sie das Thema. Wenn am Samstag in der Ząbkowska der Morgen dämmert, fragt eine Jugendliche den Obdachlosen, ob er friere. Die Keramikerin mit Dreadlocks und dem ‚Refugee Welcome‘-T-Shirt öffnet ihre Werkstatt. Der junge Mann aus Bangladesch schließt seinen Dönerladen auf. Nebenan hängt ein Mann die Nationalflagge ab, die er zur Feier der polnischen Unabhängigkeit gehisst hatte. So unterschiedlich sie sind, in der Ząbkowska begegnen sie sich.