1. Preis: Markus Muckenschnabl

Mit dem 1. Preis beim Kurzgeschichtenwettbewerb "Mehr Licht!" zum 30-jährigen Jubiläum der lichtung verlag GmbH im Jahr 2020 wurde der Text "Sechsundvierzig" von Markus Muckenschnabl ausgezeichnet.

Der Autor hat eine wahre Begebenheit vom Ende des Zweiten Weltkriegs im Ort Tiefenbach bei Passau literarisch verarbeitet: 42 russische Kriegsgefangene wurden dort kurz vor Einrücken der amerikanischen Befreier von der SS hingerichtet. In der Erzählung begleitet man den Bauern Johann, der ruhig und entschieden handelt und dabei doch sein eigenes Leben aufs Spiel setzt. Gerade noch rechtzeitig rettet er mit einer List vier der russischen Gefangenen das Leben. „Es ist die lakonische, gleichzeitig aber auch ungemein suggestive Sprache, die einen vom ersten Satz an in den Text hineinzieht“, sagt Bernhard Setzwein über den Text, der alle drei Jurymitglieder gefesselt hat.

Die Figuren in der Geschichte, Johann oder auch dessen Frau Franziska, charakterisiert Muckenschnabl nicht durch große Dialoge, sondern durch ihr bedachtes Handeln. Und auch das Ende, das man sich als Leser selbst zusammensetzen muss, demonstriert die raffinierte Technik der Aussparung.

Markus Muckenschnabl, geboren 1966 in Regen, ist aufgewachsen in Schweinhütt im Bayerischen Wald. Nach einem Design-Studium in Nürnberg landete er über Umwege 1996 in Passau. Neben seiner Arbeit als Designer, Illustrator, Ausstellungs- und Museumsgestalter bleibt ihm manchmal noch Zeit zum Erspinnen von Kurzgeschichten. Dem Beitrag „Sechsundvierzig” für die lichtung ging eine intensive Recherche voraus, da diese Geschichte auf einer tatsächlichen Begebenheit beruht. Ein Mahnmal im Wald bei Tiefenbach gab den ersten Anstoß für die Geschichte: Bereits in den 50er Jahren wurde dort ein Denkmal für 42 ermordete russische Männer errichtet.

Sechsundvierzig

von Markus Muckenschnabl

Johanns Blick schweift über den Klessinger Wald. Er schätzt die Entfernung der Schüsse ab, die der Nordwind nach Ranzing trägt. Könnte sein, dass grad das zehn Kilometer entfernte Tittling eingenommen wird. Zwischen hier und den Schüssen harren nur mehr ein paar wenige Dörfer der Ankunft der Amerikaner. In Oberpolling gräbt sich grad ein Rudel verblendeter Burschen ein, um die heranrollenden Panzer um ein paar Stunden aufzuhalten und ihr Aufbäumen gegen das Unaufhaltbare mit dem Leben zu bezahlen. Wenn’s nur auch die erwischen würde, die ihnen diesen Odel ins Hirn gegossen haben, aber da macht sich Johann keine große Hoffnung. Für welche gefallenen Helden wohl nach diesem Krieg die Denkmäler errichtet werden? Für die armen Hunde, die versuchten, ihren Arsch zu retten und dabei kein Glück hatten? Oder für die Deppen vom Stamme der Herrenmenschen, die begeistert schreiend sich und andere in den Tod gerissen haben? Gut, dass er selbst für den letzten Volkssturm schon zu betagt ist. Und gut, dass sein Schwager beim Reichsarbeitsdienst für die Musterungen zuständig ist. Der konnte Johanns einzigem Sohn, dem siebzehnjährigen Hansl, und ein paar weiteren Buben vielleicht das Leben retten, indem er sie dienstuntauglich schrieb.

Johann krault den alten Stuten die Mähnen, nimmt die Führungsleine in die Linke und stemmt sich hoch auf den Bock. Die beiden Pferde ziehen an und ganz zäh beginnen sich die Räder des hölzernen Wagens aus dem Dreck zu lösen.

Franziska steht im Türstock und sieht dem Gespann zu, wie es sich langsam nach Süden in Bewegung setzt. Sie wartet, hofft, dass sich der schwarze Hut über dem wetterbraunen Genick doch noch mal umwendet zu ihr. Sein Rücken, geschützt von der grauen Filzjoppe, scheint gebeugter als sie ihn sonst wahrnimmt.

Auch beim Heimweg von der Messe in Tiefenbach heute früh gab sich der Johann recht wortkarg, trotz der Kinder, die alle fünf um ihn herumsprangen und aufgeregt vom Herannahen der Amerikaner plapperten. Er starrte nur stumm vor sich hin und zeigte auch keine Regung, als sich Franziska bei ihm unterhängte und ihre Hand über seine rauen Bartstoppeln gleiten ließ.

Johann stand nach der Andacht mit den Tiefenbacher Männern beisammen. Aufgebracht diskutierte der Ortsgruppenleiter mit dem Bürgermeister vor versammelter Mannschaft. Was denn jetzt mit den dutzenden russischen Kriegsgefangenen werden solle? Wie einen Haufen Unrat hat man sie vor ein paar Wochen hier in Tiefenbach abgeladen! Jeden Tag verhungern ein paar und wenn morgen wirklich der Amerikaner kommt, wie schaut denn das aus und was werden denn die Überlebenden denen erzählen? Oder noch schlimmer: der Russe erreicht die Gegend vorher! Der Bürgermeister jammerte, er habe wenigstens versucht, welche in die Nachbargemeinden abzuschieben, aber die Rudertinger haben die ganze armselige Truppe einfach wieder zurückgeschickt, man solle sich bittschön selber um sie kümmern. Ja, kümmern, wie denn, zefix noch mal? Dann muss man es halt der SS sagen, fluchte der Ortsgruppenleiter, die würden sie schon wegbringen. Die drehen ja eh schon alle durch, weil sie ahnen, was ihnen blüht, wenn der Feind sie erwischt. Und diese Kreisleiter, die sich da grad in Passau unten aufspielen, gießen immer noch mehr Öl ins Feuer. Warum hier immer noch niemand baumelt, meinte einer gar. Wenn so einer die SS-Truppen, die in der Stadt stationiert sind, erst mal aufpeitscht, dann würden die Tiefenbacher bald befreit sein von diesem elenden Haufen, der da schlecht bewacht und unversorgt in der Rankl-Scheune vor sich hin vegetiert. Man müsse halt in Passau mal auf den Tisch hauen! Stumm hörte sich Johann das Geblöke an, kippte sich eine Prise seines Schnupftabaks auf den Handrücken und wandte sich ab.

Er nimmt den Hinweg über Haselbach. Bis zur windschiefen Rankl-Scheune benötigt sein Gespann keine zwei Stunden. Und doch, es ist ihm, als ob der bleigraue Himmel, der heute eh kaum Licht auf die Erde fallen lässt, in der kurzen Zeit die dunkle Färbung des Abendhimmels angenommen hätte.

Den Geruch aus dem Graben um die Scheune, den die Russen für ihre Notdurft ziehen mussten, nimmt er wahr, noch bevor er die beiden Burschen entdeckt, die in ihren schmutzigen Uniformen am Scheunentor lungern und rauchen. Johann kennt beide nicht, was die Sache nicht leichter machen wird. Einer tritt neugierig ein paar Schritte vor, stützt sich auf sein Gewehr, fragt heiser und mit österreichischem Akzent, was er, der alte Bauer, denn wolle. Er brauche dringend ein paar Helfer fürs Holz, grad jetzt gehöre alles aufgearbeitet. So ein Schmarrn, meint der noch am Tor lehnende, als wie wenn es jetzt nichts Wichtigeres zu tun gäbe als Holz zu machen. Johanns Augen blitzen, er zieht den Rotz hoch und spuckt. Die Amis seien schon vor Ranzing, zischt er, man müsse dringend Holzbarrikaden errichten, man müsse doch was tun und sie aufhalten, oder ob ihnen beiden das eh wurscht sei! Blicke werden ausgetauscht, die finsterer sind als der graue Himmel. Er zieht seine Schnupftabakdose aus der Joppe und hält sie dem Heiseren versöhnlich hin.

Zurück fährt er den abgelegenen Weg über Wilmerting. Er will nicht bei jedem Hof erklären müssen, was es mit den vier ausgehungerten Menschen auf seinem Wagen auf sich hätte. Die könnten doch nicht mal mehr einen Rechen ziehen, was will er denn mit denen?

Dabei schienen andere noch in schlimmerem Zustand. Die beiden jungen Wächter prügelten halt die dem Tor am nächsten kauernden vier Gestalten aus der Scheune heraus. Es sah aus, als ob sie ein Stück aus dem Batzen aus Dreck, Gestank und sechsundvierzig menschlichen Gerippen wegschlagen würden.

„Da, schaut’s amoi, ma sehgt scho mein’ Hof!”. Den ganzen Sonntag hat er entgegen seiner sonst so lebensfrohen Natur kaum geredet, nicht mit seinen fünf Kindern und nicht mit Franziska und der Magd. Selbst dem Madey, dem polnischen Kriegsgefangenen, der seit drei Jahren zum Hof gehört, hat er nur gesagt, dass er ihn heute nicht brauche. Und nun, diesen vier Unbekannten, die seiner Sprache nicht mächtig sind, erzählt er auf einmal dies und das. Was hat er auch dabei für sie außer freundliche Worte? Doch selbst wenn das verlorene Quartett diesen alten Bauern verstehen würde – um ihre Köpfe über die Wagenklappen zu heben und in die Richtung zu blicken, in die er deutet, müssten die Vier einen Rest an Kraft aufbringen, den sie nicht mehr besitzen.

Seine Frau steht im Türstock. Immer noch? Wieder? Immer? Franziska mustert den beladenen Wagen, die vier zerlumpten Halbtoten mit ihren tiefliegenden Augenhöhlen und hohlen Wangen. Und sie mustert ihren Mann, der still ihren Blick erwidert, bis der Wagen im Hof zum Stehen kommt. Sie nickt kurz, dann dreht sie sich um und geht ohne ein Wort zurück ins Haus. Mehr Suppe muss hingesetzt werden, ein Zimmer mit vier Schlafstätten muss vorbereitet werden. Und eins der Kinder soll dem Madey helfen, Waschwasser herzurichten.

Ein paar Nächte später kann man in Ranzing fast gleichzeitig Schüsse von Norden und von Süden vernehmen. In Oberpolling verreckt der jugendliche Volkssturm im amerikanischen Kugelhagel und in Tiefenbach werden zweiundvierzig gefangene Russen von einem hinzitierten SS-Bataillon abgeschlachtet. Als Johann in der Früh den Kopf zu seinem Kammerfenster hebt, scheint ihm der erste Strahl der aufgehenden Sonne mitten ins stoppelbärtige Gesicht. Er blinzelt dem beginnenden Tag entgegen.

Nach einer wahren Begebenheit.

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